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Dierk Schmidts

Dierk Schmidts "SIEV-X – Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik"

  • Ausstellung
    09.04.2009 - 06.09.2009
    Städel Museum »
Dierk Schmidts

Dierk Schmidts 2001-2003 entstandener 19-teiliger Bildzyklus „SIEV-X - Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik" ist Historienbild, politisches Statement und Reflexion über die Möglichkeiten der Malerei in unserer Gegenwart in einem. Die im Städel präsentierten Arbeiten des 1965 in Unna geborenen und in Berlin lebenden Künstlers verbinden einen skandalösen Fall von unterlassener Hilfeleistung und desaströser Flüchtlingspolitik Australiens im Jahr 2001 mit einem der Hauptwerke der europäischen Historienmalerei: Theodore Géricaults „Floß der Medusa" von 1819. Schmidts Malerei ist das Ergebnis eines komplexen investigativen Prozesses. Sie zeigt, wie der Schiffbruch der französischen Fregatte „Medusa" und der willentlich in Kauf genommene Tod Aberhunderter Boat People vor der Küste Australiens einander strukturell wie ästhetisch auf frappierende Weise ähneln. Einen weiteren Bezugspunkt bildet Eugène Delacroix' Gemälde „Die Freiheit auf den Barrikaden". Der Bildzyklus von Dierk Schmidt ist ein Neuzugang in der Sammlung des Städel Museums und wurde aus Mitteln des „Städelkomittees 21. Jahrhundert" erworben.

Das von den australischen Behörden verwendete Kürzel „SIEV" steht für „Suspected Illegal Entry Vessel", also für ein mutmaßlich illegal in die Hoheitsgewässer Australiens eindringendes Boot, der Zusatz „X" für „unbekannt". „SIEV-X" wurde im Jahr 2001 zum Synonym für ein namenloses Flüchtlingsboot, das nicht frühzeitig abgefangen werden konnte. Das Schiff erreichte allerdings nicht (im doppelten Sinn) „sicheres" Festland, sondern sank auf hoher See; von den 397 Flüchtlingen überlebten 44. In den folgenden Jahren konnte nachgewiesen werden, dass dieses Schiffsunglück die Folge von Manipulationen und unterlassener Hilfeleistung seitens des australischen Staates war: „SIEV-X" wurde zum Symbol einer im höchsten Maß unmenschlichen Flüchtlingspolitik, deren Hintergründe nur mühsam enthüllt werden konnten.

Schmidts Zyklus gibt diesem größten Schiffsunglück vor der australischen Küste der jüngeren Geschichte ein Bild. Ein Bild, das es anfangs nicht gab - so die Aussage der Behörde des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) - oder geben durfte. Ein Bild, das nicht zu einer Nachricht hätte werden sollen. Parallel dazu wendet sich Dierk Schmidt der Frage nach der Möglichkeit einer „politischen Ästhetik" in der Tradition der „Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss zu. Es geht um ein zeitgenössisches Historienbild, dessen Hintergrund nicht die Abbildung von Herrschaftsstrukturen, sondern Recherche und aktive Teilhabe bilden. Letztlich überlagern einander die unterschiedlichen Argumentationsstränge.

Die 19 Teile von Schmidts Zyklus verdichten sich zu einer vielschichtigen Erzählung, die sich fast filmisch aus Bildern und Texten, aus Politik und Malerei entwickelt und in welcher der Betrachter zum selbstständig recherchierenden Akteur wird.

Das zentrale Triptychon aus den Jahren 2001 und 2002 - bestehend aus „Xenophobe - Schiffbruchszene, gewidmet 353 ertrunkenen Asylsuchenden im Indischen Ozean, 19. Oktober 2001, am Morgen", „Untitled" und „Freiheit" - bezieht sich explizit auf zwei Hauptwerke der französischen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts: Eugène Delacroix' „Die Freiheit auf den Barrikaden" und Theodore Géricaults „Das Floß der Medusa". Das Mittelstück des Triptychons dokumentiert die heutige Hängung der Werke im Louvre und konfrontiert diese mit der skandalgeprägten Rezeption der Erstpräsentation des „Floßes der Medusa" 1819. Die beiden Seitenteile übertragen die historischen Vorbilder in die Gegenwart. Vor allem das Gegenstück zu Géricaults „Floß", Schmidts „Xenophobe", befragt ausdrücklich die Fähigkeit der Malerei, das ihr zugrunde liegende Ereignis in seiner politischen Bedeutung abzubilden. Auch Géricaults „Floß" hat menschliches, vor allem aber staatliches Fehlverhalten zum Gegenstand: den Schiffbruch der französischen Fregatte Medusa. Die Offiziere und Vertreter der Staatsgewalt retteten sich mit den Beibooten, ließen die Matrosen auf einem Floß zurück und unternahmen nachweislich nichts zu deren Rettung. Auch hier existierte kein ‚Bild‘ in der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Die Schiffbrüchigen trieben tagelang auf See und wurden nur gerettet, weil ein anderes Schiff sich über den expliziten Befehl, nicht nach dem Floß zu suchen, hinwegsetzte. Im übertragenen Sinn wurde der 3. Stand (die Matrosen und Soldaten) zur Rettung des 1. Standes (der Offiziere und des Gouverneurs) geopfert - ein unmittelbares Abbild der Restauration im nachrevolutionären Frankreich.

Nicht dies oder der Schiffbruch selbst allerdings werden zum Skandal in der Pariser Öffentlichkeit, sondern Géricaults Bild und dessen drastischer Realismus, mit dem er die toten und verwesenden Körper und die Hoffnungslosigkeit der Überlebenden ins Bild setzt. Und nicht zuletzt die Aneignung des traditionell Kirche, König oder Regierung gewidmeten Formats des Historienbildes, das hier das ‚Überleben‘ des 3. Standes darstellt. In beiden Fällen füllen die Künstler ein Informationsvakuum und agieren als investigative politische Zeitzeugen, die das Versagen der Staatlichkeit aufdecken. In diesem Sinn konfrontiert das Triptychon verschiedene Formen des Historienbildes: Dem außerhalb des Ateliers recherchierenden und politisch agierenden Künstler (Gericault und Schmidt) steht Delacroix' „Freiheit auf den Barrikaden" gegenüber - ein idealisierendes Abbild der Geschichte aus der Atelierperspektive.


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